DIE HERKUNFT DER LOSUNG „VERTRAUEN AUF DIE EIGENE KRAFT“

AUTOR: Josef Theobald

In einem früheren Beitrag wurde mit Recht festgestellt, dass die in der Volks-
republik China ab den Sechziger Jahren verwendete Losung „Vertrauen auf
die eigene Kraft“ als Antwort auf die Folgen des Zerwürfnisses zwischen der
Sowjetunion und China von Nordkorea übernommen wurde.

Zuvor hatte J. W. Stalin im Verlauf der Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts
diese Losung öfters verwendet, indem er auf den Glauben oder das Vertrauen
auf die eigene Kraft verwies. Hier finden sich in seinen Werken einige Beispiele.

In seinem Politischen Rechenschaftsbericht an den XVI. Parteitag äußerte sich
Stalin dahin, dass in der UdSSR der Glauben an die eigenen Kräfte und die Per-
spektive einer weiteren Verbesserung der Lage in der Praxis einhergingen.

Die Erklärung findet sich in seiner Rede zum 12. Jahrestag der Oktoberrevolution
mit dem Titel „Das Jahr des großen Umschwungs“. Damals sah sich die Sowjet-
union einer Finanzblockade ausgesetzt, so dass das Akkumulationsproblem nur
aus eigener Kraft gelöst werden konnte. Um den Aufbau einer Schwerindustrie
aus eigenen Mitteln finanzieren zu können, bedurfte es des Tributes, d. h. die
fehlenden Mittel wurden durch die Bauernschaft aufgebracht, indem diese zum
einen überhöhte Preise für Industriewaren zahlte und zum anderen weniger Geld
für die verkauften landwirtschaftlichen Erzeugnisse bekam. Nur dadurch konnte
ein schnelles Wachstum der Industrie gewährleistet werden. Dafür erhielt die
Bauernschaft die jetzt am dringendst benötigten Traktoren, landwirtschaftlichen
Maschinen und Kunstdünger. [1]

Wie in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland setzte die Sowjetunion
auf eine autarke Wirtschaft. Man wollte von anderen Machtblöcken unabhängig
sein. In Deutschland setzte man dabei auf niedrige Löhne. Außerdem gewährte
man der deutschen Wirtschaft einen großen Spielraum, was die Entscheidungs-
freiheit in unternehmerischen Dingen anging.   
 
Profan gesprochen ist „Glauben“ zunächst auf ein ausdrücklich genanntes per-
sönliches oder sachliches Objekt bezogen, dessen besondere Eigenschaften
im Glaubenden ein Gefühl des Vertrauens hervorruft und damit ein Urteil be-
gründen kann. Das Vertrauen kann sich dann auf die Wahrhaftigkeit und Auf-
richtigkeit einer Person sowie zugleich auf die Wahrheit und Glaubwürdigkeit
ihrer Aussage richten. Aus dem Vertrauen wird dann auch ein Etwas- oder
Sich-Anvertrauen.

Die Unterscheidung zwischen der Aufrichtigkeit einer Person und der Glaub-
würdigkeit ihrer Aussage führt schließlich dazu, dass „Glauben“ zum Ausdruck
eines subjektiven Urteils wird, bei dem der Grad der Überzeugung unterschied-
lich sein kann. Eine Sache kann aus subjektiven Gründen mit dem Gefühl der
inneren Gewissheit für wahr gehalten werden, ohne dass die zum Wissen nö-
tige Erkenntnismöglichkeit vorliegt. „Glauben“ kann die feste Gewissheit be-
deuten, dass ein der Erfahrung nicht zugängliches Objekt tatsächlich existiert
oder – auf die Zukunft bezogen – dass ein bestimmtes Geschehen gewiss ein-
tritt. [2]   

Typisch für die frühen Jahre der Sowjetunion war der Glaube an das politische
System und das Vertrauen der Sowjetbürger in die kommunistische Partei mit
ihren politischen Zielen.

Die Idee von dem „Vertrauen auf die eigene Kraft“ fand Anfang der Sechziger
Jahre Eingang in die offizielle Politik Albaniens, Nordkoreas und Chinas. Erste
Spuren finden sich in den nationalen Befreiungskämpfen während des II. Welt-
krieges. Nach dem Krieg fand es seinen Ausdruck in der Entschlossenheit und
revolutionären Bereitschaft der osteuropäischen Länder, den Sozialismus unter
allen Bedingungen und Umständen durch die Mobilisierung aller menschlichen,
materiellen und finanziellen Quellen aufzubauen. [3]     

Dass die Losung „Vertrauen auf die eigene Kraft“ auf W. I. Lenin zurückgehen
soll, ist schlechthin nicht zu beweisen. In seinem literarischen Nachlass fehlt
hier jeder Hinweis. Denkbar wäre aber eher eine mündliche Überlieferung ein-
zelner Aussprüche, die keinen Eingang in die Werke Lenins gefunden haben.

ANMERKUNG
[1] J. W. Stalin, Werke, Band 12, Dietz-Verlag, Berlin-Ost 1954, die Seiten
     279, 108 + 44.   
[2] J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch IV,I,4, Leipzig 1949, die Artikel
     „Glaube“ und „Glauben“.
[3] GESCHICHTE DER PARTEI DER ARBEIT ALBANIENS, Verlag „NAIM
     FRASHERI“, Tirana 1971, die Seiten 542 + 708.