DIE SOWJETUNION UNTER GORBATSCHOW

AUTOR: Josef Theobald
 
Nach dem Tode von Konstantin Tschernenko im März 1985 wurde der Platz
als Generalsekretär der KPdSU frei für Michail Gorbatschow (geboren 1931).
Gorbatschow war ein Günstling von Juri Andropow (1914-1984) gewesen, der
nach dem Ungarn-Aufstand im Jahre 1956 eine steile Karriere vom einfachen
KGB-Offizier bis zum Generalsekretär einer kommunistischen Partei hinlegte.
 
Infolge der vorgefundenen wirtschaftlichen Situation in der Sowjetunion hegte
Gorbatschow die Hoffnung, durch entsprechende Maßnahmen die sowjetische
Wirtschaft wieder zu beleben.
 
Für die sowjetische Wirtschaft typisch waren eine unzureichende Planbarkeit,
das Vorhandensein eines bürokratischen Wasserkopfes, große ökonomische
Disproportionen, eine geringe Arbeitsproduktivität, hohe Selbstkosten, Formen
von Ressourcenverschwendung, eine miserable Qualität bei den produzierten
Gütern, eine Kapitalbeschaffung durch die gnadenlose Ausbeutung der Land-
wirtschaft und ein durch die zu beobachtende Mangelwirtschaft erzwungener
Konsumverzicht der Arbeiter sowie das Bestehen der Zwangsarbeit in einem
gewaltigen Ausmaß. [1]
 
Die Schlagworte waren damals „Perestroika“ und „Glasnost“.
 
Das russische Wort „Perestroika“ bedeutet übersetzt „Um- oder Neugestaltung,
Umstrukturierung, Reorganisation“. Der Terminus „Glasnost“ bedeutet in seiner
Übertragung dagegen „Offenheit, Öffentlichkeit“. Damit ist in der Anlehnung an
das Altkirchenslawische ausgedrückt „das Recht, eine Stimme zu haben, offen
das zu sagen, was man denkt“. [2]
 
Nach dem Tode Stalins im Jahre 1953 vollzog sich die Reorganisation der sow-
jetischen Wirtschaft in mehreren Stufen:
 
Nikita Chruschtschow (1894-1971) hatte im Rahmen seiner Sownarchos-Reform
die Absicht, die Macht der Industrieministerien zu schwächen. Im Februar 1957
kündigte die Sowjetregierung die Reorganisation der Industrie in sogenannte Re-
gionale Wirtschaftsräte oder Sownarchosi (Volkswirtschaftsräte) an. Unter diesem
System wurden die Fabriken nicht mehr von einem Ministerium kontrolliert, zu dem
sie gehörten, sondern von dem Regionalrat oder Sownarchos, der für die jeweilige
Region zuständig war, in der sie angesiedelt waren. Die Idee war hierbei, dass die
Regionalräte Produktion und Verteilung zwischen allen Unternehmen in dieser Re-
gion vernünftig koordinieren könnten. Der eigentliche Hintergrund war die Vermei-
dung von Verschwendung der Ressourcen. Der Nachteil war allerdings, dass die
Fabriken von ihren früheren Lieferanten abgeschnitten waren und in ihrer Region
vergleichbare fehlten. So mussten die Fabriken die fehlenden Ersatzteile nunmehr
selbst herstellen, aber mit geringerer Effizienz und höheren Kosten. In der Praxis
sorgte dies allerdings für eine weitere Aufblähung der Bürokratie. Es entstanden
Staatskomitees, zentrale Räte, ein Oberster Wirtschaftsrat und eine Reorganisa-
tion der Staatlichen Plankommission (Gosplan), die jetzt die Probleme lösen sol-
lten, die durch den Lokalsystem der Sownarchosi entstanden. Die Lage wurde so
schlimm, dass die Manager öfter die offiziellen Versorgungskanäle umgingen und
eine direkten Tausch miteinander begannen, z. B. überschüssigen Stahl gegen
Maschinen oder Baustoffe. [3] 
 
In die Zeit von Leonid Breschnew (1906-1982) fällt die Schaffung von Kombinaten
im ganzen Land. Ziel war es dabei, kleine Fabriken miteinander zu verschmelzen
und durch eine Spezialisierung die Rentabilität zu steigern. W. I. Lenin hatte noch
in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ die
Kombination als die typische Erscheinung des Kapitalismus bewertet. In der heu-
tigen Wirtschaftstheorie wird die Kombination mit Hilfe mathematischer Gesichts-
punkte beurteilt. Bei den in der Sowjetunion entstandenen Kombinaten handelte
es sich um zwei- (Ministerium-Kombinatsbetrieb) bzw. dreistufige (Ministerium-
Industriekombinat-Kombinatsbetrieb) industrielle Systeme. Bis Anfang 1975 sind
in der UdSSR insgesamt 1715 Kombinate mit 6700 Betrieben und Produktions-
stätten gebildet worden. Die Kombinate regelten nicht nur die Produktion betref-
fenden  Angelegenheiten ihrer untergeordneten Organisationen, sondern zentra-
lisierten auch alle Managementfunktionen, wie Absatz, Beschaffung, wissenschaft-
liche Forschung , Projektierung, Finanzführung usw. Jedes Kombinat hatte die Be-
rechtigung, wissenschaftliche und  technologische Beziehungen mit dem Ausland
aufzunehmen und entsprechende Abkommen zu unterzeichnen. [4]  
 
Als ein typisches Beispiel galt das Eisenhüttenkombinat, das durch den Hochofen-
prozess, die Konverterstahlerzeugung. den Strangguss und durch das Fertigwalz-
werk geprägt war. Die Kombinatsbildung wurde jedoch nur dann als zweckmäßig
angesehen, wenn in allen Abteilungen des Kombinats durch ausreichend große
Produktionsmengen eine rationelle Herstellung gesichert war. [5] 
 
Unter Gorbatschow wurde im Rahmen der Perestroika versucht, die Sowjetwirt-
schaft zu einer Marktwirtschaft westlichen Stils umzuwandeln. Die Theorie war,
wenn die Unternehmen ihre eigenen Lieferanten finden müssten, würden sie
Waren besserer Qualität und prompte Lieferungen verlangen. Wenn sie ihre
eigenen Abnehmer zu finden hätten, würden sie auch qualitativ gute Produkte
erzeugen und diese ebenfalls rechtzeitig liefern. Wenn sie sicher sein wollten,
dass sie Gewinne erwirtschafteten, würden sie aufpassen und die Produktions-
kosten durch die Modernisierung ihrer Anlagen und durch die Entlassung von
Arbeitern, die sie nicht wirklich brauchten, unter Kontrolle halten. In der Praxis
waren damit allerdings erhebliche Preiserhöhungen verbunden. Somit war die-
ser Politik kein großer Erfolg beschieden. [6]             
 
In der Öffentlichkeit wird oft der Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
irrtümlich mit M. Gorbatschow in Verbindung gebracht. Er wird zum typischen Aus-
hängeschild der Wendehälse in der früheren DDR. Damit wird lediglich die Wende
ausgedrückt und hat mit der Perestroika nur am Rande zu tun.
 
Hierbei setzte man auf das Leitbild des Organisators, dem man nun eine führende
Rolle zubilligte. Man glaubte damals, dass die formulierte Theorie der Perestroika
nahtlos in die Praxis umgesetzt werden könne. Dadurch würde die Praxis belebt
und nach einer Erprobungsphase wären die Missstände bald behoben. [7] In der
Realität blieb dies wegen der starken Bürokratisierung der sowjetischen Wirtschaft
leider reine Theorie. Somit war das vorherrschende Sowjetsystem mit dieser Aus-
gestaltung nicht mehr reformierbar.
 
ANMERKUNGEN
[1] Gottfried Schramm (Herausgeber), Russlands langer Weg zur Gegen-
     wart, Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 2001, Seite 73.
[2] Langenscheidt Handwörterbuch Russisch, München 2009, Seite 538
     + 115.   
[3] Donald Filtzer, Die Chruschtschow-Ära, Decaton Verlag, Mainz 1995,
     die Seiten 79 – 82.
[4] Beijing Rundschau Nr. 8 vom 24. Februar 1976, die Seiten 18 – 20.
[5] Wörterbuch der sozialistischen Ökonomie, Dietz Verlag, Berlin-Ost
     1967, Seite 236/37.
[6] wie [3], jedoch die Seite 79.  
[7] W. I. Lenin, Ausgewählte Werke in drei Bänden, Band II, 7. Auflage,
     Dietz Verlag, Berlin-Ost 1970, Seite 592.